In memoriam Hans Schmidt

In memoriam Hans Schmidt

In memoriam Hans Schmidt

Ein Nachruf auf einen Ausnahmeschriftkünstler von Heiner Müller

In der Herausarbeitung des Persönlichen, nicht in der Züchtung des Perfekten, sehe ich die Chance für den Schriftunterricht und das Schreiben. Vor allem muß im Unterricht die Autorität der Vorlage abgebaut, dagegen die Phantasie angeregt werden, der Mut zur eigenen Form muß gestützt und das Bewußtsein der Selbstverantwortung des Studenten muß aufgebaut werden.“

So schrieb Hans Schmidt 1983 im damaligen hfg-forum, der Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main, anlässlich seiner Verabschiedung von dieser Hochschule, an der er von 1963 bis 1983 zunächst als Dozent und dann als Professor für Typographie und Schrift gelehrt hatte.

Und dieser Mut zur eigenen Formfindung ist das, was den Schriftkünstler Hans Schmidt so unnachahmlich und unverwechselbar macht: den Buchstaben diese einmalige „Handschrift“ zu geben, die dem kreativen Prozess der Formfindung in Korrespondenz mit dem zu verarbeitenden Material eine Erscheinungsform verleiht, die man vergeblich bei einem anderen Schriftkünstler finden wird.

Hans Schmidt beschränkte sich bei seiner Arbeit mit den „Typen“ nicht nur auf das Papier: Ob Pappe, Holz, Ton, Metall, Kunststoff, Plexiglas oder sonstige Materialien – im Zusammenwirken mit den von ihm ausgewählten Texten verstand es der Schriftkünstler, Wortgestalt und Sinngehalt zu einer Einheit zu verschmelzen – auch wenn es für den Betrachter seiner Schriftkunst nicht immer einfach ist, die von ihm gestalteten Botschaften zu entziffern. Eine Schriftstele von ihm beinhaltet wohl nicht umsonst den Text „Das Problem entsteht durch die Betrachtung.“ Aber wer nicht vorschnell aufgibt und den Textinhalt dann enträtselt hat, dem bietet sich ein Aha-Erlebnis der besonderen Art, das Redaktionsmitglied Herbert Heckmann der o. g. Zeitschrift so zum Ausdruck brachte: „Nach all den Konsumtriumphen gängiger Lesbarkeit, die den Leser zum allesglaubenden, alles hinnehmenden und alles verdauenden Opfer macht, kann nun ein subjektiverer, eigenwilligerer Ansatz, der den Leser nicht widerstandlos einlullt, zum Abenteuer des Lesens einladen.“

Wie kein anderer hat Hans Schmidt auch nach seiner Verabschiedung von der Hochschule in Offenbach als freischaffender Schriftkünstler sich dieser Maxime verschrieben: mit immer wieder neuen, ungewöhnlichen Buchstaben- und Schriftformen zu experimentieren, diese mit den verschiedensten Materialien umzusetzen und so zu einem ganz besonderen Abenteuer des Lesens und Erkennens einzuladen.

Im Dezember 2018, als ich Hans Schmidt zum letzten Mal in seinem Zuhause in Badenhard im Hunsrück besuchte, fragte ich ihn, ob er sich denn auch mit der herkömmlichen Kalligraphie beschäftige. „Warum soll ich nachschreiben, was ein anderer lange vor mir geschrieben hat? Ich entwickele dagegen immer neue Buchstabenformen“, war seine lapidare Antwort.

Er schenkte mir damals eine seiner letzten Arbeiten, einen Holzschnitt, und ich suchte mir einen Text aus, der deutlich macht, wie sehr sich Hans Schmidt auch immer wieder mit dem Älterwerden und den damit verbundenen körperlichen Beeinträchtigungen sowie mit dem Sterben auseinandergesetzt hat: „Wieder kommt Abschied an auf ganz alten Beinen, die Sprossen der Tage werden täglich höher.“

Auch im hohen Alter von 96 Jahren wurde Hans Schmidt bis wenige Wochen vor seinem Tod nicht müde, bei seinen Buchstabenkreationen Holz zu sägen, zu feilen, Drähte zu biegen, zu löten, Ton zu formen oder Papier zu schneiden – Tätigkeiten, die ihm viel Freude bereitet und ihn tief erfüllt haben – bis am Ende die Beine doch zu alt und die Sprossen der Tage doch zu hoch für ihn geworden waren und er am 14. Mai 2019 verstarb.

Hans Schmidt wurde am 14. Januar 1923 in Leipzig geboren, wo er eine Lehre als Kartolithograph absolvierte. 1942 wurde er in den Wirren des Zweiten Weltkrieges zur Wehrmacht eingezogen, wo er ab 1944 – dank des erlernten Berufes – als Kartograph seinen Dienst versehen konnte. Das Schicksal brachte ihn dort mit Rudo Spemann zusammen, der ihm in der wenigen freien Zeit Schriftunterricht gab und seinen Blick für damals namhafte Schriftkünstler wie F. H. Ernst Schneidler oder Walter Tiemann weitete. Nach Kriegsende geriet Hans Schmidt in Gefangenschaft, wurde aber wegen Verwundung und Krankheit schon bald entlassen, so dass er nach Leipzig zurückkehren und 1947 sein Studium an der Akademie für Buchgewerbe und Graphik aufnehmen konnte. Schon nach vier Jahren wechselte er in den Beruf und arbeitete von 1951 bis 1963 als Typograph bei der Eggebrecht-Presse in Mainz; daneben hatte er Lehraufträge für Schrift und Typographie an der Landeskunstschule in Mainz, bis er dann schließlich, wie eingangs erwähnt, an der HfG in Offenbach a. M. lehrte.

Nach seiner Emeritierung zog Hans Schmidt nach Badenhard in den Hunsrück, fernab vom Trubel und der Geschäftigkeit der heutigen Zeit, wo in einer zum Atelier umgebauten Scheune eine neue Phase seiner Arbeit begann, nämlich der Übergang von der Fläche in die Dreidimensionalität. So entstanden Schriftzeichen als plastische Formen, als Kuben, als Pyramiden, Kugeln, als Buchstabenlandschaften oder als Stelen, um die man herumlaufen muss, um sie lesen zu können.

Anlässlich der zweiten großen Ausstellung der schriftkünstlerischen Arbeiten von Hans Schmidt im Klingspor-Museum in Offenbach am Main im Jahre 2008 sagte Direktor Stefan Soltek über den Künstler: „Auf Papier gezeichnet, gedruckt, in Holz geschnitzt, in Metall geschnitten, in teigige Tonmasse eingedrückt – Hans Schmidt erweist sich als unerschöpflicher Meister der Materialien. Allem gewinnt er, genau kalkulierend oder intuitiv, jenes Spezifikum ab, das im Moment der jeweiligen Schaffensweise als Mittel zur Form taugt. Weichheit und Wärme, Glätte und Kühle, Helligkeit und Dunkel, hoch aufstrebend zur stabartigen Säule, breit gelagert als tabula ansata – Stofflichkeit in der ausgesuchten Beziehung zur Form macht sich Hans Schmidt fast nach Belieben zunutze, ohne je die eigene Stilistik zu verlieren. Stets ist er mit dem Kern seiner selbst zugegen, bedient sich dabei – als wäre es seine Signatur – ungeachtet aller materialen Vielfalt nur einer einzigen Konstante: der Versalie. Die Gemeinen bleiben ausgeklammert. Immer im Großgeschriebenen verbleibend, steigert sich nur umso markanter die Variabilität im Kontext von Form und ihrer stofflichen Ausführung. Gleich in welcher Dimension – gleichrangig rangiert die bis an die Grenze der Erstarrtheit versachlichte Form neben der geradezu oszillographisch das Temperament des Protagonisten abtastenden Linie; Linie, die im Auf- und Niederfahren Lesart evoziert, die als Haarriss durch Fläche oder Kubus fährt. Schriftlinie als Verlaufslinie, als Lebenslinie, mit den verblüffendsten Ausschlägen, Winkelungen, Steigungen und Abläufen – alles kündet unverstellt und eindeutig von dem am Schriftkanon entlang spürenden Hans Schmidt.“

Auf einem gewebten Schriftteppich von Hans Schmidt aus dem Jahr 1959 heißt es: „Es gibt keine Grenzen der Dinge.“ (Christian Morgenstern) Er hat diese Grenzen bis zuletzt ausgelotet, bis er merkte, dass das Ende nahe war. Die Welt der Schrift hat mit Hans Schmidt einen Ausnahmeschriftkünstler verloren, einen, der fernab von der Hetze unserer Zeit seiner Leidenschaft des Buchstabenmachens nachging – leise, bescheiden und Ruhe und Gelassenheit ausstrahlend, aber immer zielstrebig und bestimmend in seinem kreativen Tun.

Veröffentlicht in: Stiftung Schriftkultur, Rundbrief 5, Sommer 2019

 

Claus Wolfschlag: Zuwachs im Klingspor-Museum

Claus Wolfschlag: Zuwachs im Klingspor-Museum

Offenbach ‐ Zuwachs im Klingspormuseum: Am Mittwoch hat eine Skulptur des Künstlers Hans Schmidt Eingang in die Museumshallen gefunden. Gespendet wurde sie vom Rotary-Club Offenbach. Von Claus Wolfschlag

Hans Schmidt war bereits ein wichtiges Thema in den Klingspor-Räumen. Vor zwei Jahren waren in der Schau „Vom Linearen zum Voluminösen“ skulpturale und druckgraphische Arbeiten Schmidts aus den vergangenen 15 Jahren zu sehen gewesen. Der Künstler wurde 1923 in Leipzig geboren, besuchte dort die Hochschule für Grafik und Buchgestaltung. Von 1951 bis 1963 arbeitete er in Mainz, unter anderem als Lehrbeauftragter für Typografie und Schrift an der Landeskunstschule. Von 1963 bis 1983 arbeitete er als Dozent und Professor an der HfG Offenbach. Seit 1984 lebt er freischaffend in Badenhard im Hunsrück.

Der humanitären Zielen verpflichtete Rotary-Club Offenbach hat anlässlich seines 50-jährigen Gründungsjubiläums eine Stiftung zur kulturellen Förderung ins Leben gerufen. Aus den 200 000 Euro Stiftungskapital fließen jedes Jahr zur Unterstützung von Kultur und sozialen Belangen Beträge an Offenbacher Einrichtungen.

Buchstaben mit Rosaton gestrichen

Rotary-Vizepräsident Ulrich Stenger und Stiftungsbeirat Dr. Joachim Arnold übergaben Schmidts Skulptur „Nackt“ an das Klingspormuseum. Das aus leichtem Balsaholz gefertigte Spätwerk aus dem Jahr 2007 präsentiert den aus fünf Buchstaben bestehenden Schriftzug in vier Einzelskulpturen. Der Buchstabe „c“ wurde neckisch als kleiner Henkel des „k“ angelegt. Die Buchstaben wirken aus der geometrischen Grundform herausskelettiert und sind mit einem an Fleisch erinnernden Rosaton gestrichen.

Museumsleiter Dr. Stefan Soltek betonte bei der Übergabe den katholischen Glauben des Künstlers und dessen Verankerung in der Bibel. Die Kunst führe bei Schmidt zur Reflexion mit dem Inneren des Menschen, mit der Essenz des Wesens. Er breche Formen auf, greife auf Formen des „Bauhaus“ zurück und stilisiere so Buchstaben auf geometrische Grundformen.

Skulptur wird für Workshops aus Archiv geholt

Die Skulptur wird die nächsten Wochen im Obergeschoss des Hauses zu sehen sein. Danach wird sie unregelmäßig für Workshops oder Werkschauen aus dem Archiv geholt. Soltek betonte in diesem Zusammenhang, dass trotz des bevorstehenden Dachausbaus des Museums die Raumkapazitäten leider beschränkt seien. Das Depot ist bereits gut gefüllt. Nachlässe etwa seien sehr erwünscht, stellten das Museum allerdings auch vor logistische Aufgaben. Die Idee eines „virtuellen Museums“, einer umfassenden Bestandsdigitalisierung, sieht Soltek nicht unkritisch: „Auch dies braucht Geld und Personal für die Fotografien und Bearbeitungen. Zudem lenkt das Bild bisweilen den Blick fort vom Original.“

Wolf Spemann: Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung HANS SCHMIDT im Klingspor-Museum Offenbach am Donnerstag den 6. März 2008

WOLF SPEMANN
BILDHAUER, DR. PHIL.
AUSSICHT 9A
D – 65193 WIESBADEN
TEL.: 0611 – 521432
FAX: 0611 – 9599361
Mail:Wolf.Spemann@t-online.de
www.spemann-skulpturen.de
Wiesbaden, Januar 2008

Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung HANS SCHMIDT
im Klingspor-Museum Offenbach am Donnerstag den 6. März 2008

Anrede
Lassen Sie mich zu Anfang die wichtigsten Daten im Leben von Hans Schmidt
nennen. Er hat 20 Jahre in Offenbach gelehrt und ist vielen von Ihnen bekannt,
darum kann ich diesen Rahmen sehr eingrenzen.
Er ist vor 85 Jahren in Leipzig geboren. Dort hat er eine Lehre als Kartolithograph
absolviert, wurde 1942 eingezogen und 1944 fast automatisch als Kartograph
eingesetzt. Er arbeitete in einem Kartenwagen Seite an Seite mit dem Bruder meines
Vaters RUDO SPEMANN. Sie feierten gemeinsam Rudos 40. Geburtstag. Hans
Schmidt war gerade halb so alt.
Sein Interesse hatte sich von der rein handwerklichen Arbeit als Kartograph bereits
der Schrift zugewandt, Vorbild war Rudolf Koch. Durch Rudo Spemann erfuhr
Schmidt dann einiges über Schneidler, Tiemann und andere, sein Blick weitete sich.
Wenn Leerlauf im Dienst war, schrieb Rudo seine eigenen Blätter. Ich zitiere aus
Schmidts Erinnerung „…er nutze auch die geringste fünfminütige Pause bis zum
Antreten, um seine Blätter weiterzubringen. Dieses besessene Arbeiten hat mich
sehr beeindruckt und angeregt. Und nebenbei gab er mir Schriftunterricht.“ ( 1 )
Damals vor 64 Jahren, haben die Kriegswirren zwei Menschen zusammengewürfelt,
dem einen zum wegweisenden Nutzen und dem anderen – dessen bin ich sicher –
zu einem stillen Glücksgefühl darüber, selbst unter dermaßen chaotischen
Umständen von dem besten, was er konnte, etwas weitergeben zu dürfen.
Das Ende des Krieges trennte die beiden. Hans Schmidt kam in
Gefangenschaft. Durch Verwundung und Krankheit wurde er bald entlassen, kehrte
nach Leipzig zurück und arbeitete als Kartograph, bis er 1947 ein Studium an der
Leipziger Akademie für Buchgewerbe und Graphik aufnehmen konnte. Schon nach 4
Jahren wechselte er vom Studium in den Beruf und ging als Typograf an die
Eggebrecht-Presse nach Mainz. 1956 fand eine erste und 1961 eine zweite
Ausstellung im Klingspor-Museum statt. Es erschien ein Katalog mit einem
begleitenden Text von Dr. Hans-Adolf Halbey, im Auftrag der Vereinigung der
„Freunde des Klingspor-Museums“
Es ist das gemeinsame Schicksal aller Hochschullehrer, die sich für ihre
Studenten verantwortungsvoll engagieren, dass sie bis zur Pensionierung nur mit
einem Bruchteil ihrer Kraft zur eigenen Arbeit kommen. 1983, als Hans Schmidt
pensioniert wurde, gab die Hochschule eine Zeitung heraus, die Nr. 9 des „hfg
forum“.
Darin hat Schmidt auf 10 großformatigen Seiten unter dem Titel „Schriftunterricht“
das Fazit aus 20 Jahren Lehre gezogen. Es war stets sein Ziel die Autorität der
Vorlage abzubauen – und den Mut zur eigenen Formphantasie anzuregen ( 2 )
In der Lehre hat Hans Schmidt die dreidimensionale Schrift nicht behandelt.
Im Jahr seiner Pensionierung schrieb die Vereinigung der
Freunde des Klingspor-Museums einen Wettbewerb zum Thema „Dreidimensionale
Schrift“ aus. So wurde der Abschied von Hans Schmidt zugleich ein Hinweis auf
seine zukünftige Tätigkeit. Hans Schmidt war es vergönnt, danach eine neue und bis
heute anhaltende Phase seiner Arbeit zu beginnen. Er zog nach Badenhard im
Hunsrück, weit ab von allem Trubel der Zeit und nun entstanden Zug um Zug immer
häufiger dreidimensionale Schriften, die in den letzten Jahren sein Werk dominieren.
Der Übergang von der Fläche zur Dreidimensionalität entstand nicht durch Falten,
was denkbar gewesen wäre, sondern durch Schneiden. Man kann das sehr gut
anhand der Kataloge verfolgen, die 1988, 92, 98, 2001 und 2004 herausgekommen
sind.
Heute erscheint der fünfte Katalog seit Schmidt nach Badenhard gezogen ist; ein
Zeichen dafür, mit welcher Besessenheit er arbeitet. In der menschlichen Begegnung
wirkt Hans Schmid ruhig, fast still, schweigsam. Aber in ihm muss es ständig brodeln,
wie die Solfatara bei Neapel, die nie Ruhe findet. Er experimentiert mit allem was ihm
in die Hände kommt. In der Hinsicht kennt er kein Tabu. Diese Freiheit hat im Alter
noch zugenommen. Fast alles stellt er selbst her, aus Metall, Holz, Seilen,
Kunststoffen und sogar Keramik, d.h. er hat einen eigenen Brennofen. Und doch
werden diese Techniken nie Selbstzweck, sondern dienen dem jeweiligen Sinn des
Textes, bei dem Hans Schmidt Form und Inhalt in Einklang bringen will. Der Inhalt ist
der Anstoß, aber er gibt die Form nicht vor.
Die Ausstellung, die wir heute eröffnen, ist keine Retrospektive. Sie zeigt Arbeiten,
die vorwiegend in den letzten 20 Jahren, d. h. nach seiner letzten Ausstellung im
Klingspor-Museum 1988 entstanden sind.
Ein Bindeglied finden Sie in der ersten Vitrine. Dort ist eine Kubus aus Karton
ausgestellt: Die Worte ADAM und EVA, aus dem Jahren 1991 und 1993.
Ich konzentriere mich jetzt weitgehend auf die dreidimensionalen Schriften,
wohl wissend, dass parallel dazu immer wieder gezeichnete und gedruckte Blätter
und Bücher entstanden sind. Aber die Zeit verbietet mir, auf alles im Einzelnen
einzugehen.
Dreidimensionale Schriften hat es seit vorgeschichtlicher Zeit gegeben.
Von eingekerbten Hölzern bis zu Buchstaben, die in Holz oder Stein gehauen
wurden, sind uns Texte in großer Zahl überliefert. Das alles war Hans Schmidt
natürlich geläufig. Aber er geht nicht zurück zu den Quellen, sondern setzt mitten im
20. Jahrhundert ein, indem er die Frage stellt “Wenn ein „O“ eine Kreisfläche sein
kann, warum sollte es nicht eine Halbkugel sein, und warum sollten die anderen
Schriftzeichen nicht auch plastische Formen haben können? Dieser Gedanke war
der Anstoß“
Schon 1965, also zwei Jahre nach Beginn seiner
Lehrtätigkeit, entstand ein erstes Schriftrelief, 72 x 48 cm groß, Holz, weiß
gestrichen, so dass das Material unwichtig wurde, aber die Schattenwirkungen voll
zu Geltung kommen konnten. Schmidt bleibt „…immer auf der Basis der über viele
Jahrhunderte hin festgelegten Grundformen“ ( 4 )
Aber im krassen Gegensatz zu den unzähligen Schriftplatten, die über die
Jahrhunderte entstanden sind, beschränkt sich Schmidt selten auf eine erste und
eine zweite Ebene. Seine Buchstaben ragen als Halbkugeln, Viertelkugeln,
Pyramiden und schräge Ebenen in den Raum hinein. Es kommt zu einer
Geometrisierung der Schrift, die zu Rückwirkungen auf seine geschriebenen und
gezeichneten Schriften führt. Parallelen sieht er bei Erwin Heerich ( Düsseldorf ),
Karl Gerstner ( Basel ), Helmut Schmidt-Rhen ( Hamburg ) und Klaus Staudt, seinem
Kollegen an der Hochschule. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn man muss
im gleichen Atemzug sagen, dass die eben genannten Vertreter der absoluten,
kalten, systematischen Kunst, wie sie genannt wird, den Formen, den Kuben,
Pyramiden, Kugeln, Scheiben und dergleichen, abverlangen, dass sie
konkret für sich alleine stehen und aussagekräftig genug sein sollen, während
Schmidt mit der Schrift immer zugleich einen Text vermitteln will.
Es gibt noch eine zweite Parallele zur Bildhauerei der Moderne. Alexander
Archipenko hat 1915 eine menschliche Gestalt geschaffen, bei der er den
Aussagewert von positiver und negativer Form gleichgesetzt hat. Kurz erläutert, er
hat eine Frau dargestellt, die ihr Haar kämmt. Den Raum zwischen dem rechten,
hoch gereckten Arm und dem links herunter fallenden Haar hat er als Durchbruch
modelliert. Genau genommen ist die Positivform des Kopfes durch die Negativform
eines Durchbruchs ersetzt.
Auf die ethische Konsequenz bei Archipenko will ich nicht eingehen, denn sie berührt
Hans Schmidt nicht. Aber letzterer hat in seinen kühnen Schriftentwürfen – ebenso
wie Archipenko – gestalterisch die positiven Formen und die negativen Formen
gleichrangig behandelt.
Mit seinen Schriftstelen schlägt Schmidt eine dritte Brücke zur modernen Kunst.
Indem man um die Stelen herumgehen muss oder die Stele drehen, um den Text
lesen zu können, ändert sich der Anblick und es kann zu optischen Verschiebungen
kommen, die an die Op-art erinnern.
Die Lesbarkeit seiner Schriften ist ihm wichtig. Als ich ihn vor einem Vierteljahr im
Vorfeld dieser Ausstellung in Badenhard besuchte, gingen wir durch sein Atelier. Er
bemerkte, dass ich bei dem einen oder anderen Text rätselte, und dann sagte er
nach wenigen Sekunden: „ich helfe ihnen“. Daraus entnehme ich, dass ihm nicht
daran liegt, den anderen in ein undurchdringliches Dickicht zu schicken.
Die Texte sollen gelesen werden können, aber – so Schmidt – „man kann den
Lesern etwas zumuten.“ Beim Zeitunglesen soll die Schrift in den Hintergrund treten.
Auch bei einem Buch steht der Text im Vordergrund. Hans Schmidt sucht sich aber
Texte, die hoch komprimiert sind, verdichtet, und in wenigen Worten beim Leser
Gedankenketten auslösen können. Es handelt sich durchweg um Texte von
Dichtern, Philosophen oder aus der Bibel, die ihn beschäftigen und die er zum
Zeitpunkt seiner Arbeit für wesentlich hält.
Ein Beispiel: Vor acht Jahren modellierte Schmidt einen Vierzeiler von Goethe mit
dem Text „Prüfungen erwarte bis zuletzt.“ Die Schrift ist in einer Ebene gehalten.
Kein Material wurde weggenommen, nur die Tonerde geschnitten, gestaucht oder
gebogen. Man braucht etwas Zeit, um die Zeilen lesen zu können. Um so
eindringlicher wirkt die Einheit von Form, Text und Gehalt auf uns. Erde, aus der wir
sind, und zu der wir werden, ist in einfacher, elementarer Weise verformt und
gebrannt. Das ist alles. So existentiell wie Goethes Worte: geradezu lapidar.
Hans Schmidt liest viel, ist an der gesamten Kultur
interessiert und fühlt sich ihr verpflichtet. Seine Texte auswählen und dann in eine
zeitgemäße Form bringen, das ist für ihn „…eine Sache der Verantwortung vor dem
Leben, vor Gott, vor der Entwicklung der Kultur und vor den Mitmenschen“. ( 5 ) Die
kirchlichen Institutionen interessieren ihn wenig. Aber ein Mensch, der in seinen
Arbeiten so in die Tiefe geht, der kann gar nicht anders, als sich des Einflusses der
1.500 Jahre christlicher Kultur, in der wir leben, bewusst zu sein.
Von Hans Schmidt stammt der Satz: „ Die Schrift muss sich weiterentwickeln. Wir
müssen die Schrift für unser Jahrhundert finden“. ( 6 ) Damit formuliert er das gleiche
Ziel, welches im übertragenen Sinn für alle bildenden Künste gilt. Die Künstler haben
kulturell die Aufgabe, sich durch ihre Arbeit im Nebel der Zukunft voranzutasten und
die Form – und Farbsprache der jeweiligen Gegenwart zu erschaffen. So jedenfalls
war es über viele Jahrhunderte.
Vorhin habe ich bereits angedeutet, dass sich die heutige Bildende Kunst nicht klar
erkennen und umreißen lässt. Sie ist – wie jede Kunst – ein Spiegelbild unserer
Gesellschaft. Die befindet sich in einer Phase der Auflösung. Adrienne Goehler, die
12 Jahre lang als Präsidentin der Hamburger Hochschule für bildende Künste
sowohl die Kunstszene als auch die nachwachsenden Kräfte an der Hochschule
beobachtet hat, schrieb das Buch „Verflüssigungen“ ( 7 ) Sie analysiert und
beschreibt die heutige Situation. Alle Stabilität verflüssigt sich: allgemeingültige
Werte, religiöse Bindungen, eine große Zahl der Ehen, künstlerische Wertmaßstäbe
und vieles mehr ist ins Wanken geraten. Darin liegt die Chance, dass Neues
wachsen kann, aber auch eine Gefahr, wenn wir jeglichen Boden unter den Füssen
verlieren.
Hans Schmidt gehört zu den Wenigen, die einerseits ständig bereit sind, an einer
Weiterentwicklung des Bestehenden zu arbeiten. Gleichzeitig setzt er in seiner
Textauswahl und deren bildhafte Umsetzung in Schrift feste Trittsteine, auf denen
man das für uns Menschen notwendige Mindestmaß an Boden unter den Füssen
spürt. Dafür danken wir ihm. Die Ausstellung ist eröffnet.

Anmerkungen
1 Schmidt, Hans, in „Gottes Will hat kein Warumb“, Offenbach 1995, S.6 // 2 vgl. S. 7 // 3 Katalog 1988 S. 29
4 Halbey, Hans-Adolf, in Katalog 1988, S.7 // 5 und 6 : Hans Schmidt im Gespräch am 29. 10. 07 in
Badenhard, Gesprächsnotiz W. Spemann // 7 Adrienne Goehler: Verflüssigungen, Ffm/ New York 2006,
Campus

Paul Raabe: Dies ist eine ungewöhnliche Ausstellung

Dies ist eine ungewöhnliche Ausstellung. Ein Typograph, der sein Leben lang mit Schrift umgeht, legt sich Rechenschaft ab, indem er auf die letzten fünfundzwanzig Jahre seiner Arbeit zurückblickt. So entstand dieser Katalog, die Bilanz eines Typographen, der mit Schrift experimentiert, mit Buchstaben zwischen kFlächen und Linien spielt, der Lettern zeichnet, formt, verschlüsselt, verfremdet, verheimlicht, der Wörter als Stempel schneidet und Sätze in Teppiche webt, der Schrift zu Stelen türmt und zu Reliefs gestaltet, der kubische Formen schafft im Reiz von Licht und Schatten, kinetische Objekte baut, von Schriftarchitektur träumt und nicht zuletzt Bücher macht, konventionelle Bücher, durch verschlungene Initialen markiert und ungewöhnliche Bücher, die mit Buchstaben und Sätzen wiederum experimentieren.

Hans Schmidt, Graphiker, Schriftgestalter, Typograph in Offenbach, in der reichen Tradition der Schriftkunstbewegung, ein Außenseiter und zugleich ein Zugehöriger, geht seinen eigenen versponnenen Weg, indem er mit seinen Schriftzeichen wie mit seinen Materialien neue Möglichkeiten der Formung ausprobiert. So gelingen ihm immer wieder überraschende Gestaltungen. Alles ist bei ihm in Bewegung, alles ist Veränderung, alles ist Leben.

“Das Problem entsteht durch die Betrachtung”, lautet der Text auf einer seiner Schriftstelen. Der Satz entschlüsselt die Art und Weise, mit der Hans Schmidt mit Schrift umgeht. Indem der Betrachter die verformten, in geometrische Figuren verwandelten Buchstaben enträtselt und den Satz entziffert, erkennt er den Sinn dieser Plastik: sie fordert den Betrachter auf, in der Welt die Probleme zu sehen.

Die Texte sind es, die die Schriftformen, die unser Typograph gestaltet, zu etwas Hintergründigem machen. Tod und Leben werden so wie Beschwörungen in Holz geritzt oder auf Papier gezeichnet, auf Gewebe wiedergegeben oder in Metall gefasst. Immer wieder wird Descartes Erkenntnis in verschiedenen Materialien gestaltet: “Ich bin” oder das “Innehalten” als Aufforderung niedergeschrieben.

Diese Gestaltungen faszinieren den Betrachter, der ihre verfremdeten Buchstabenfolgen wie Hyroglyphen entschlüsseln muss und um so klarer den Sinn erfasst. “Kargheit Klarheit” liest man auf einem Blatt. Diese beiden Begriffe zusammengefasst, sind ein Bekenntnis des Typographen Hans Schmidt. Durch die Sparsamkeit der Mittel wird Schriftgestaltung zu einem beherzigenswertem Programm.

Dieses kennenzulernen, ist dere Sinn der Ausstellung, der Bücher und Zeichnungen, der Stelen und Reliefs von Hans Schmidt, dem Typographen, der es versteht, Schrift zu verschlüsseln, um das Geheimnis des Wortes zu vermitteln.

Wir danken dem Künstler für sein Werk wie für die von ihm gestaltete Ausstellung und den von ihm ztusammengestellten Katalog. Wir freuen uns, dass diese Ausstellung in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel ihren Anfang nimmt und hoffen, dass sie im In- und Ausland viel Anklang findet.

Paul Raabe, 1988
Direktor dere Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Javis Lauva: Die Schrift wird nicht verraten

Javis Lauva: Die Schrift wird nicht verraten

Die Schrift wird nicht verraten

Das Abspringen der Bedeutung von der Schrift, die Verwandlung des Graphischen in den Klang der Sprache, lässt die Buchstaben, die Urhebere unserer Vorstellungen, eigentümlich leer zurück. Wir lassen die Gedanken wie Flugzeuge von den Text-Bahnen aufsteigen und vergessen den Boden in der Luft. Nur ein Kind, das lernt, bewegt den Mund noch dicht an der Schrift. Das Schwerlesbare ist das noch nicht Eingeprägte, die Schrift existiert noch nicht als Schrift im Gedächtnis. Die Form hält die kindliche Aufmerksamkeit noch gefangen.

Vor den Arbeiten von Hans Schmidt fühle ich mich manchmal wie ein Kind, das vergessen hat, für welchen Klang die Buchstaben denn stehen. Das aber ist die Chance des „Bildes“, ist die Kunst Hans Schmidts, die Bedeutung der Worte nicht schnell herzugeben, sondern sie gleichsam zu sperren: Sie darf die Schrift nicht verlassen, sondern muss sie in ihrem Sinne verwandeln. Mit „Bild“ ist hier die Einheit des Text-Körpers, des Form-Körpers, gemeint – Skulptur also eingeschlossen -, der in allen so weit gespannten Formexperimenten Hans Schmidts unter der Empfindung einer „Waage“ zu stehen scheint. Das äußert sich beispielsweise in den „allereinfachsten“ Schrift-Zeichnungen Hans Schmidts so, dass durch ein Durchzeichnen der Vertikal- und Horizontallinien der Buchstaben-Formen eine Vereinheitlichung des Form-Raumes errichtet wird, in dem durch Verstärkung und Verengung eine Justierung des Form-Gleichgewichts stattfinden kann. Dieser Zug zum „Bild“, zur formalen Ausgewogenheit, zur harmonischen Gewichtung, lässt die Schrift zu einem ästhetischen Vehikel werden, das von hier aus weitere Bereiche an sich binden kann. Das lenkt die Arbeiten von Hans Schmidt an die Seite einer abendländischen Bild-Tradition des inneren Form-Gleichgewichts, die manchmal aufgekündigt, dennoch ungebrochen fortwirkt.

Und doch: Die Schrift wird nicht verraten! Das Kunststück Hans Schmidts, sein „Spaghat“, besteht in dem Versuch, die Schrift in den Bild-Raum, in ihre formale Autonomie zu führen, um gerade dadurch ihren Inhalt deutlicher zu machen. Dies geschieht durch eine Art Bannung. Der Inhalt wirkt an der Bild-Bewegung mit, nimmt an der Formierung teil, wird Teil der Arbeit, wird sichtbar und lesbar zugleich.

Sprechen wir bei Hans Schmidts Arbeiten ruhig auch von Schrift-Zuständen, die das Gegebene unserer Schrift an den Rand ihrer Form führen, von dem wir hinabsehen in die Zeiten einer Schriftgenese, die ursprünglich “reines Bild” gewesen sein mag, sich selbst verpflichtet. Es mag diese vielleicht intuitive Besinnung auf den Ursprung unserer Schrift sein, die über die Arbeiten von Hans Schmidt auch unseren Blick schärfen kann für die angelegten Bezüge in unserer Schrift, auch für deren Verschiebbarkeit und Transformierung.

Befragen wir in diesem Sinne die ausgestellte Skulptur MARS: Wir sehen vor uns eine Reihe von Stahlstücken, vier Buchstaben auf einen Balken montiert, die den Namen des römischen Kriegsgottes MARS in einer Zeile marschieren lassen. Der Name des Kriegsgottes, verdeutlicht in Stahl, das ist naheliegend, eröffnet die lange Reihe der Härten: Schwert, Rüstung, Helm, Geschoss, Kanone. Die Buchstaben selbst scheinen der Gewalt des Gottes ausgesetzt und ihm zu eigen gemacht worden zu sein. Sie sind durch einfache Schnitte, durch Hiebe gekappt, gekerbt, zerteilt worden. Durch diese Streiche, so möchte man sagen, schuf sich der Gott Klingen für Lanze und Beil. Die Buchstaben: Klingen!

Das M, durch einen Schnitt in zwei genau gleiche Teile, in zwei Klingen zerlegt, erzeugt durch sein spiegelbildliches Gegeneinander sowohl die Vorstellung eines inneren Kampfes, als auch durch seine identischen Teile gleichsam eine Reihe von Soldaten. Dieses spiegelbildliche Prinzip ist bei allen Buchstaben erhalten. Beim A gelingt die Halbierung ähnlich leicht wie beim M, das R und das S spiegeln einander ihre Hälften. Die Armee der Buchstaben, martialisch geschmiedet, haben MARS sichtbar gemacht. Das Sichtbare tritt neben das Lesbare und wird von ihm aufgenommen, beides verschmilzt miteinander.

Dieses Verfahren, alle Ebenen des Lesbaren und Sichtbaren miteinander zu verständigen, das ist das Zentrum des Schaffens von Hans Schmidt. Hans Schmidt verschafft dem Lesbaren ein Ansehen. Die Buchstaben werden wieder “Bild”.

Javis Lauva

Stefan Soltek: Vom Linearen zum Voluminösen

Stefan Soltek: Vom Linearen zum Voluminösen

Ausstellung im Klingspor Museum Offenbach

9. März bis 13. April 2008

VOM LINEAREN ZUM VOLUMINÖSEN

SCHRIFT, GESCHRIEBEN VON HANS SCHMIDT

Doch Euch des Schreibens ja befleißt,
Als diktiert’ Euch der Heilig’ Geist!
(Goethe, Faust)

FORM…
Ruhig, bestimmt, gemessen – die Ausstrahlung, die von dem nun 85jährigen Künstler Hans Schmidt ausgeht, lässt tief verwurzelte Souveränität erkennen. Wer mit diesem Eindruck auf seine Wort- Kompositionen schaut, zumal die skulpturalen, versteht umso deutlicher deren klar gegliederten Aufbau, ihre sichere Konzeption, ihre Festigkeit. Manche sind gar nicht besonders groß, andere ragen beachtlich, übermannshoch auf,– monumental sind sie alle, wenn damit nicht das Äußere, sondern jene innere Monumentalität gemeint ist, die viel entscheidender für die überzeugende, substantielle Wirkkraft des Werks ist.

Weitere Betrachtungen der Person fördern Facetten zu Tage: hier und da ein kaum merkliches Anhalten im ansonsten wohl gesetzten, beherrscht artikulierten Redefluss; ein Zögern im Mienenspiel, und dann ein feinsinniges Lächeln um den Mund. Da entdeckt sich der Spielraum für Toleranz, für die Bereitschaft zur Abweichung vom Festgelegten, für Öffnung gegenüber dem so nicht Erwarteten. Es ist diese Feingliedrigkeit, Feinlinigkeit, die bei aller Gefügtheit seiner Kompositionein den Grundton wie ein selbstbewusst vorwärtsdrängendes Krakelee einbricht. Immer wieder faszinieren diese Liniengespinste, gleich ob streng geometrisch konstruiert oder als unruhig ausfingerndes Mündungsdelta vernetzt. Es zeugt von der Erfahrung und Vorstellungskraft Schmidts, wie er dabei den Buchstaben Figur gibt, sie genau so in der Schwebe hält, dass sie als Hinführung zum Lesen, aber nicht als Lesezeichen unmittelbar funktionieren. Lesen, von lateinisch: legere, Auflesen – Merkmal der Aneignung, die Zeit braucht und dadurch zum Verständnis erweiternden Mitvollzug der Schreibbewegung wird.

Stabilität, Statuarik einerseits – Fragilität und Grazie andererseits. Im Gegensatz kommt der Spannungsreichtum im Oeuvre von Hans Schmidt zur Sprache. Schmidt ist ein Künstler des Schriftlichen, des festgelegten Zeichens wie des selbstbestimmten Zeichnens. Dabei hat er über Jahrzehnte hinweg eine nur ihm eigene Dialektik im Erkunden der Schrifterscheinungen betrieben, die zwischen dem Volumen des Körpers und der feinst gestrichenen oder gezogenen, ausgesparten oder eingetieften Linie korrespondiert: Wechselgespräch zwischen den Polen – und das lässtden Suchenden nicht müde werden, immer neues Formenrepertoire zu erforschen.

Auf Papier gezeichnet, gedruckt, in Holz geschnitzt, in Metall geschnitten, in teigige Tonmasse eingedrückt – Hans Schmidt erweist sich als unerschöpflicher Meister der Materialien. Allem gewinnt er, genau kalkulierend oder intuitiv, jenes Spezifikum ab, das im Moment der jeweiligen Schaffensweise als Mittel zur Form taugt. Weichheit und Wärme, Glätte und Kühle, Helligkeit und Dunkel, hoch aufstrebend zur stabartigen Säule, breit gelagert als tabula ansata – Stofflichkeit in der ausgesuchten Beziehung zur Form macht sich Hans Schmidt fast nach Belieben zunutze, ohne je die eigene Stilistik zu verlieren. Stets ist er mit dem Kern seiner selbst zugegen, bedient sich dabei – als wäre es seine Signatur – ungeachtet aller materialen Vielfalt nur einer einzigen Konstante: der Versalie. Die Gemeinen bleiben ausgeklammert. Immer im Großgeschriebenen verbleibend, steigert sich nur umso markanter die Variabilität im Kontext von Form und ihrer stofflichen Ausführung. Gleich in welcher Dimension – gleichrangig rangiert die bis an die Grenze der Erstarrtheit versachlichte Form neben der geradezu oszillographisch das Temperament des Protagonisten abtastenden Linie; Linie, die im Auf- und Niederfahren Lesart evoziert, die als Haarriss durch Fläche oder Kubus fährt. Schriftlinie als Verlaufslinie, als Lebenslinie, mit den verblüffendsten Ausschlägen, Winkelungen, Steigungen und Abläufen – alles kündet unverstellt und eindeutig von dem am Schriftkanon entlang spürenden Hans Schmidt.

In Leipzig erlebte Hans Schmidt das akademisch geschulte Regelwerk der Schrifteleganz Walter Tiemanns. Außerdem lernte er die unstillbare Schreiberhand Rudo Spemanns kennen. Doppelt so alt, war Spemann ihm, dem jungen Soldaten, nicht lange aber intensiv vertraut und Vorbild im Sich-Verzehren-Können für die Anziehungskraft kunstvollen Aufnotierens. Demgegenüber hatte Hans Schmidt aber auch Rudolf Koch im Gepäck, dessen Alphabetbuch er als Quelle benennt. Und gerade Kochs Hingabe an den unbedingten Willen zu Formen der eigenen Individualität, an immer wieder überraschend eigenständige, ja widerständige Schriftbilder und -schnitte, sollte auf Hans Schmidt einen bleibenden Eindruck machen. Schmidt formulierte es während seiner Zeit als Dozent an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung einmal so: „In der Herausarbeitung des Persönlichen, nicht in der Züchtung des Perfekten, sehe ich die Chance für den Schriftunterricht und das Schreiben.“ Schreiben des Eigenen als das eigentliche Schreiben – das liest sich als Prämisse aus all seiner Arbeit heraus. „Eigensinn macht Spass“ hatte Hermann Hesse formuliert.

Das Glück wollte es, im Zuge der Arbeit bei der Eggebrecht Presse in Mainz einem jungen, ganz anderen Charakter zu begegnen – Helmut Schmidt Rhen. An der systematisch seriellen Arbeitsweise des in
Kassel bei Hans Hillmann ausgebildeten Grafikers und Malers bemerkt Hans Schmidt die Fähigkeit zur konstruktiven Umgangsweise mit dem Buchstaben und seiner Verfügung zu Wort, Zeile und Textblock. Prämissen, die in den 60er Jahren, im Nachleben zu Bauhaus und Schweizer Sachlichkeit Vorrang haben. Und einen zweiten Gestalter und Künstler, Klaus Staudt – auch er Dozent an der Hochschule für Gestaltung –, nennt Schmidt als ihm in dieser Hinsicht bemerkenswerten Gegenüber. Es zeugt von der hellwachen Aufnahmebereitschaft Hans Schmidts, diese verschiedenen Quellen und Anregungen aus unterschiedlichen Zeitphasen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern einzubinden in eine Sprache der Textur, die aus heterogenen Komponenten Einheit herzustellen weiß.
Bis in die Gegenwart atmen seine Arbeiten diesen Habitus von Geschlossenheit und Tektonik einerseits und Fragilität andererseits. Eins greift ins andere, vergleichbar mit einer fiktiven Verschmelzung von Figuren Eduardo Chillidas und Alberto Giacomettis. Hans Schmidt hält in seinen Arbeiten mit seiner Zeit Schritt und bleibt doch der Vergangenheit verbunden. Er knüpft bei Rudolf Koch an, und kann sich gleichwohl seinen eigenen Weg in die Geschichte der elementaren Schweizer Typografie bahnen. Für den Reliefbildner wie für den Zeichner gilt: Schrift erfährt im
Werkprozess von Hans Schmidt jedenfalls eine Metamorphose, hin zu einer Erscheinungsform, die den Kalligrafen sowenig entspricht wie den Typografen, sondern sich als Abzweig mit eigenen Trieben und Blüten sehenswert entwickelt hat.

Noch einmal Rudolf Koch zu erwähnen, ergibt sich aus einer für das Formale abschließenden Betrachtung des Wechselverhältnis’ von Schrift und Trägerform. Denn es war Koch, der bei aller Meisterschaft der Handschrift und der Typografie für das Buch auch größerformatige Papierarbeiten von großem Reiz fand. Sein gewaltiges Bergpredigt-Kreuz, 1922 mit Tusche auf ein Rechteck von 93×68 cm geschrieben, belegt dies eindrucksvoll. Größer noch sind die Teppiche, die er zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Werkstattgemeinschaft schuf. Die gut 2.50 m hohen Gewebe, mit Versalien bestickt, halfen ihm, sein Bedürfnis nach großem Format der Schrift, zu lesen als Signal an den Wänden von Räumen, Kirchenräumen zumal, zu stillen. Auch Hans Schmidt ist der Gestaltung von Schriftzügen auf Teppichen nachgekommen; auch diese als Wandbilder zur Ansprache an den im Raum Stehenden, vom Raum eingestimmten Leser gedacht.
Ein Schriftteppich Schmidts von 1959 (gewebt von Gret Mohrhardt und Inge Richter) inszeniert die Aussage:
„Es gibt keine Grenzen der Dinge“
(Christian Morgenstern, Stufen, 1918).

…UND INHALT
Mit Rudolf Koch und Rudo Spemann teilt Hans Schmidt im Grunde dasselbe christlich geprägte Weltbild. Inhalte, die er schriftlich ins Bild setzt, stammen nichtimmer aus religiösen Textquellen, doch auch jene, die profaner Natur sind, folgen einem roten Faden von Wertverständnis, das in der Vorstellung von Gott, Transzendenz und einer Lebensweise bestimmt ist, die sich gegen Widerstände von materieller und seelischer Not durchsetzt. Dazu gehört, Kargheit zu Freiheit zu sublimieren und Verantwortung für ein beharrliches Festhalten am Leben. Eine seiner jüngsten Arbeiten setzt dazu einen nochmaligen, höchst ausgefallenen Akzent. NACKT– Aus vier Quadern ist jeweils einer der Buchstaben (das c ist einem Henkel gleich an das K angefügt) herausgearbeitet. Die klare Rahmenkontur des
Würfels erhaltend, zeichnen sich im Inneren die Lettern, wie auf ihr Wesentliches skelettiert, ab; so, dass derKubus – wie entkernt – durchbrochen und diaphan erscheint – nackte Lettern, nackter Raum. Mehr als nüchternes Konstatieren, trotz der klinischen Präzision der Formen, deutet sich auch, unterstützt von der laut schreienden Farbe, ein Hiobsches klagend- mahnendes Aufzeigen von existenzieller Entledigung aller Äußerlichkeit an – bis auf das blank liegende Minimum körperlichseelischen Seins. WAHRHEIT und KLARHEIT– auch die früher entstandenen Stelen zielen auf Klärung von
Elementarem. Helle, fast reinweiße im Quadrat angelegte Scheiben sind zu den einzelnen Buchstaben anund eingeschnitten, gerade so weitgehend, dass aus erkundender Betrachtung allmählich ein Entziffern, dann Lesen werden kann. Vom Auge auf-, vom Empfinden an-, vom Verstand wahrgenommen – derart gestuft steuert der Schriftbildner seine Letternfolgen und ihre Bemerkung als Wort.
So erzeugt er dem einzelnen Wort die Aura seiner Begreifbarkeit, die Sinn und Sinnlichkeit konsolidiert.

Eine größere Wortversammlung bringen Sentenzenmit sich. Gleichwohl knapp gehalten, wollen sie umso markanter auf Allgemeines von Belang aufmerksammachen. Immer wieder begegnen wir Aussagen im Werk des Schriftkünstlers, die vom Wandel und der Vergänglichkeit der Dinge handeln. Wie antipodische Vorzeichen in steter Spannung, fassen zwei Plastiken auf dem Sitzplatz im Garten seines Hauses alles zusammen:

MEMENTO MORI liest sich die mehr als mannshohe Stele, aus streng stilisierten Letternquadraten errichtet. Dagegen weich, fast schmiegsam erscheinen die im Rund auf einer Tischplatte liegenden, tief in Tonquader eingedrückten Buchstaben LEBEN. Das Wesen des Prozesses, der Entwicklung, von Starten, Zielen und Ankommen – immer scheint ein Suchen, ein Aus- und Absuchen auf. Hans Schmidt schafft sichtlich Homogenität zwischen Inhalt und Formgestehung, denn eben diese beschreibt er als Leitmotiv, als immerwährenden, neu anzugehenden Versuch.

Der Weg, auf dem er sich insofern schöpferisch bewegt, ist von der Überzeugung des Schöpferischen selbst, des Schöpfers selbst, getragen; und zwar so, als könnte selbst der Tod, nur die im Moment zugespitzteVoraussetzung für einen weiteren Versuch sein.

Stefan Soltek, Klingspor Museum Offenbach