Die Schrift wird nicht verraten

Das Abspringen der Bedeutung von der Schrift, die Verwandlung des Graphischen in den Klang der Sprache, lässt die Buchstaben, die Urhebere unserer Vorstellungen, eigentümlich leer zurück. Wir lassen die Gedanken wie Flugzeuge von den Text-Bahnen aufsteigen und vergessen den Boden in der Luft. Nur ein Kind, das lernt, bewegt den Mund noch dicht an der Schrift. Das Schwerlesbare ist das noch nicht Eingeprägte, die Schrift existiert noch nicht als Schrift im Gedächtnis. Die Form hält die kindliche Aufmerksamkeit noch gefangen.

Vor den Arbeiten von Hans Schmidt fühle ich mich manchmal wie ein Kind, das vergessen hat, für welchen Klang die Buchstaben denn stehen. Das aber ist die Chance des „Bildes“, ist die Kunst Hans Schmidts, die Bedeutung der Worte nicht schnell herzugeben, sondern sie gleichsam zu sperren: Sie darf die Schrift nicht verlassen, sondern muss sie in ihrem Sinne verwandeln. Mit „Bild“ ist hier die Einheit des Text-Körpers, des Form-Körpers, gemeint – Skulptur also eingeschlossen -, der in allen so weit gespannten Formexperimenten Hans Schmidts unter der Empfindung einer „Waage“ zu stehen scheint. Das äußert sich beispielsweise in den „allereinfachsten“ Schrift-Zeichnungen Hans Schmidts so, dass durch ein Durchzeichnen der Vertikal- und Horizontallinien der Buchstaben-Formen eine Vereinheitlichung des Form-Raumes errichtet wird, in dem durch Verstärkung und Verengung eine Justierung des Form-Gleichgewichts stattfinden kann. Dieser Zug zum „Bild“, zur formalen Ausgewogenheit, zur harmonischen Gewichtung, lässt die Schrift zu einem ästhetischen Vehikel werden, das von hier aus weitere Bereiche an sich binden kann. Das lenkt die Arbeiten von Hans Schmidt an die Seite einer abendländischen Bild-Tradition des inneren Form-Gleichgewichts, die manchmal aufgekündigt, dennoch ungebrochen fortwirkt.

Und doch: Die Schrift wird nicht verraten! Das Kunststück Hans Schmidts, sein „Spaghat“, besteht in dem Versuch, die Schrift in den Bild-Raum, in ihre formale Autonomie zu führen, um gerade dadurch ihren Inhalt deutlicher zu machen. Dies geschieht durch eine Art Bannung. Der Inhalt wirkt an der Bild-Bewegung mit, nimmt an der Formierung teil, wird Teil der Arbeit, wird sichtbar und lesbar zugleich.

Sprechen wir bei Hans Schmidts Arbeiten ruhig auch von Schrift-Zuständen, die das Gegebene unserer Schrift an den Rand ihrer Form führen, von dem wir hinabsehen in die Zeiten einer Schriftgenese, die ursprünglich “reines Bild” gewesen sein mag, sich selbst verpflichtet. Es mag diese vielleicht intuitive Besinnung auf den Ursprung unserer Schrift sein, die über die Arbeiten von Hans Schmidt auch unseren Blick schärfen kann für die angelegten Bezüge in unserer Schrift, auch für deren Verschiebbarkeit und Transformierung.

Befragen wir in diesem Sinne die ausgestellte Skulptur MARS: Wir sehen vor uns eine Reihe von Stahlstücken, vier Buchstaben auf einen Balken montiert, die den Namen des römischen Kriegsgottes MARS in einer Zeile marschieren lassen. Der Name des Kriegsgottes, verdeutlicht in Stahl, das ist naheliegend, eröffnet die lange Reihe der Härten: Schwert, Rüstung, Helm, Geschoss, Kanone. Die Buchstaben selbst scheinen der Gewalt des Gottes ausgesetzt und ihm zu eigen gemacht worden zu sein. Sie sind durch einfache Schnitte, durch Hiebe gekappt, gekerbt, zerteilt worden. Durch diese Streiche, so möchte man sagen, schuf sich der Gott Klingen für Lanze und Beil. Die Buchstaben: Klingen!

Das M, durch einen Schnitt in zwei genau gleiche Teile, in zwei Klingen zerlegt, erzeugt durch sein spiegelbildliches Gegeneinander sowohl die Vorstellung eines inneren Kampfes, als auch durch seine identischen Teile gleichsam eine Reihe von Soldaten. Dieses spiegelbildliche Prinzip ist bei allen Buchstaben erhalten. Beim A gelingt die Halbierung ähnlich leicht wie beim M, das R und das S spiegeln einander ihre Hälften. Die Armee der Buchstaben, martialisch geschmiedet, haben MARS sichtbar gemacht. Das Sichtbare tritt neben das Lesbare und wird von ihm aufgenommen, beides verschmilzt miteinander.

Dieses Verfahren, alle Ebenen des Lesbaren und Sichtbaren miteinander zu verständigen, das ist das Zentrum des Schaffens von Hans Schmidt. Hans Schmidt verschafft dem Lesbaren ein Ansehen. Die Buchstaben werden wieder “Bild”.

Javis Lauva